„Die Wahrheit wird euch frei machen“ – „Die Lösung ist der Weg“. Die Pflege-Experten Oskar Dierbach und Martin Behmenburg erläutern Entstehung und Ziele der Dialog-Offensive Pflege.

Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Kapitels aus der Unternehmenschronik „25 Jahre Pflege zu Hause Behmenburg“ (April 2017), verfasst von Gudrun Heyder.

Oskar Dierbach und Martin Behmenburg brachten die Mülheimer Dialog-Offensive Pflege auf den Weg: Alle Beteiligten sollen sich dafür einsetzen, dass die Menschenwürde auch für pflegebedürftige Menschen, ihre Angehörigen und die Pflegekräfte gilt. Das ist in der „Mülheimer Erklärung“ so festgehalten.

Soll es in Mülheim Pflege am Fließband geben oder soll die Würde jedes einzelnen  pflegebedürftigen Menschen zu jeder Zeit gewahrt bleiben? Diese Frage stand 2010 am Beginn eines langen Prozesses, der noch längst nicht abgeschlossen ist. „Wir sind jetzt im Kindergarten-Stadium“, meinen Dierbach und Behmenburg übereinstimmend.

Im Jahr 2010 hielt Oskar Dierbach, Geschäftsführer der Evangelischen Altenhilfe und Pflegedienstleitung im Haus Ruhrgarten, in der zweimal jährlich tagenden kommunalen Pflegekonferenz ein Perspektivreferat. Aufgrund seiner langjährigen Arbeit als Pflegedienstleiter ist er intensiv mit den Zwängen und Unzulänglichkeiten in der Pflege vertraut. Dierbach stellte die Frage in den Raum, ob die Menschenwürde, in Artikel 1 des Grundgesetzes verankert, auch für kranke und alte Menschen gelten solle, die auf Hilfe anderer angewiesen sind. Sein Referat löste zunächst Schweigen aus, erinnert sich der Mülheimer: „In diese Stille hinein stellte Martin Behmenburg, Geschäftsführer von Pflege zu Hause Behmenburg, die alles entscheidende Frage: ‚Ja und was machen wir jetzt damit?‘ Er fuhr fort: ‚Egal, welchen Weg wir einschlagen, ich bin dabei.‘ Daraufhin versicherten auch die städtischen Mitglieder der Pflegekonferenz, dass sie sich dafür einsetzen wollen, in unserer Stadt eine menschenwürdige Pflege für alle Beteiligten zu ermöglichen.“

Befragung in Mülheimer Alteneinrichtungen und bei ambulanten Diensten

Um sich ein realistisches Bild vom Mülheimer Pflege-Alltag machen zu können, organisierten Dierbach und Behmenburg eine umfassende Befragung in fast allen Mülheimer Alteneinrichtungen und in ambulanten Diensten. Sie formulierten einen Fragebogen als thematischen Rahmen. Pflegeprofis, Ehrenamtliche, Patienten und Angehörige nahmen teil.

600 Menschen führten auf dieser Grundlage intensive Zweiergespräche, also etwa zwei Pflegekräfte aus verschiedenen Unternehmen oder zwei Angehörige pflegebedürftiger Menschen. Etwas Neues geschah: Sie sprachen ehrlich darüber, dass sie in ihrem Beruf überfordert sind, dass die Arbeitsbedingungen eine individuelle Pflege unmöglich machen oder – auf der anderen Seite  – dass der Vater im Heim schlecht versorgt ist, die Familie sich aber aus Angst vor Sanktionen nicht beschwert, oder dass die berufstätigen Kinder zuhause mit der Pflege der dementen Mutter völlig überfordert sind.

Martin Behmenburg erklärt: „Dass die Beteiligten offen miteinander geredet haben, zeigte sich an den dramatischen Ergebnissen der Befragung. Dreiviertel der Pfleger haben gesagt, dass die Arbeit sie krank macht, dass sie aber trotzdem in diesem Beruf bleiben wollen.“ Oskar Dierbach ergänzt: „Ein entscheidendes Ergebnis war, dass die Pflegenden nicht nur sehr unter Zeitdruck leiden und Rückenschmerzen haben, sondern dass sie auch in ihrem Gewissen leiden. Die Arbeitsbedingungen zwingen ihnen einen Umgang mit Menschen auf, den sie nicht wollen. Sie schaffen die Quadratur des Kreises nicht, die ihnen auferlegt ist.“ Dass sie nicht längst aufbegehrt hätten, liege daran, dass „Pfleger aus ihrer Tradition heraus eine duldsame Gruppe sind“.

Die Auswertung dient als Arbeitsgrundlage für die Kommunale Pflegekonferenz

Dierbach und Behmenburg stellen klar: „Es ging nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, authentische Aussagen der Leute zu bekommen, die täglich in der Pflege arbeiten oder sie in Anspruch nehmen. Sie haben bis ins Detail beschrieben, was sie stört und belastet. Es war ein kostbares Ergebnis, dass diese Ehrlichkeit möglich war.“ Die Inhalte der Dialoge wurden zusammen getragen und die Ergebnisse ausgewertet. Diese Auswertung ging als Arbeitsgrundlage in die Kommunale Pflegekonferenz ein. Dierbach: „Das durfte nicht so bleiben, dass die Menschen in ihrem Gewissen gebeugt wurden. Alle Beteiligten wollten, dass in Mülheim Konsens wird, die Wahrung der Menschenwürde als grundlegend in der Pflege zu betrachten.“

Das Erstaunliche sei gewesen, dass Konkurrenten auf dem „Pflegemarkt“, die sich vorher aus dem Weg gegangen seien, in der Pflegekonferenz plötzlich ganz anders miteinander umgegangen seien. Statt weiterhin zu behaupten, im eigenen „Laden“ laufe alles wie am Schnürchen, war es nun möglich, Probleme und Schwächen zu benennen. Denn die Erkenntnis setzte sich durch, dass das Verschweigen von Missständen wenig hilfreich ist. „Das gemeinsame Bewusstsein, dass alle von Ehrlichkeit und Offenheit profitieren, hat den Prozess befördert“, so Dierbach. Zum Beispiel hätten die Vertreter der ambulanten und der stationären Pflege gelernt, dass sie keine Konkurrenz sein müssen. Sondern dass es darum geht, gemeinsam Lösungen im Interesse der Patienten und Mitarbeiter zu finden.

Dierbach betont: „Wesentlich bei der Dialog-Offensive Pflege ist, dass sie nicht nur so heißt und einen schönen Namen hat, sondern dass wir wirklich Dialoge führen: offene und ehrliche Dialoge direkt Betroffener unter vier Augen, bei denen niemand Angst haben muss, dass es negative Konsequenzen für ihn hat, wenn er  über Missstände in der Pflege spricht. Der Dialogcharakter hat sich im Plenum und in den Arbeitsgruppen der Pflegekonferenz fortgesetzt. Die Dialoge wirkten wie ein ins Wasser geworfener Stein, der immer mehr Kreise zieht.“

Der Geschäftsführer der Evangelischen Altenhilfe erläutert, warum diese neue Gesprächskultur möglich wurde: „Normalerweise setzen sich Gremien aus entsandten Interessenvertretern zusammen, zum Beispiel der Rat der Stadt, die Ausschüsse, auch die Gesundheitskonferenz. Das Besondere an der Dialog-Offensive Pflege ist, das Einzelpersönlichkeiten zusammentreffen, die Menschenwürde als ihr Herzensanliegen umsetzen wollen. Ob der Direktor einer Krankenkasse oder eines Krankenhauses, in dieser Runde sind sie nicht dienstverpflichtet, sondern können offen sprechen.“

In der „Dialog-Offensive Pflege“ engagieren sich etwa 25 Mitwirkende, vor allem  Mitglieder der Pflegekonferenz – Verwaltungsfachleute, Vertreter der Krankenkassen sowie Profis aus der stationären und ambulanten Pflege –, außerdem Bürger mit persönlichem Bezug. Koordinator ist der städtische Sozialplaner Jörg Marx. Die Beteiligten verstehen ihre Initiative aber vor allem als Bürgerbewegung.

Die Stadtverwaltung moderiert den Prozess und fördert die Offensive

Die Philosophie der Dialog-Offensive Pflege bringt Oskar Dierbach so auf den Punkt: „Die in Artikel 1 beschriebene Menschenwürde soll auch morgens um 6.30 Uhr bei der pflegebedürftigen Bewohnerin ankommen.“ Das sei inzwischen in Mülheim Konsens bei allen Beteiligten. Die Stadtverwaltung ist als Moderator in den Prozess eingebunden. „Seitens der Verwaltung gibt es große Zustimmung zu dieser Offensive und auch Förderung“, freut sich Martin Behmenburg. „Vom Dezernenten an sind sich alle mit uns einig, wo die Probleme liegen, auch der Leiter des Sozialamts und der Sozialplaner der Stadt.“ Die Offensive habe die Aufgabe, der Politik Lösungsmodelle anzubieten, die sinnvoll, umsetzbar und bezahlbar seien. Der Anspruch besteht darin, den politisch Verantwortlichen zu sinnvollen Entscheidungen zu verhelfen.

Ein wichtiges Resultat sei das zwischen den Verantwortungsträgern erarbeitete Vertrauen, der Austausch ohne Hierarchien. Das zweite die Mülheimer Erklärung. Diese „Mülheimer Erklärung zur Würde und Lebensqualität Pflegebedürftiger und der sie Pflegenden“ soll weitreichende Konsequenzen für die Pflege haben. Behmenburg zitiert den Sozial- und Gesundheitsdezernenten Ulrich Ernst mit den Worten: „Die Mülheimer Erklärung ist eine Geschäftsgrundlage, hinter die wir jetzt nicht mehr zurück können.“

Die Initiatoren der Dialog-Offensive Pflege möchten nicht nur in Mülheim an der Ruhr Grundlegendes verändern, sondern auch darüber hinaus. Sie eint der Wunsch, die Offensive möge Schule machen: im Land NRW und sogar bundesweit. „Das Gesundheitsministerium in Düsseldorf und das Kuratorium der Deutschen Altenhilfe beobachten den Prozess und gucken, ob das bei uns mit der Wahrheit klappt“, berichtet Dierbach.

Ziele: alternative Prüfinstanz zum MDK, Erhaltung der Altenpflegeausbildung

Ein Ziel der Dialog-Offensive Pflege besteht darin, in Mülheim eine alternative Prüfinstanz zum MDK aufzubauen, was der Gesetzgeber gestattet. Auch im städtischen Sozial- und Gesundheitsausschuss setzt sich diese Idee durch. Die Stadt hat für dieses Vorhaben eine Fünftel-Stelle eingerichtet. Um seiner verantwortungsvollen Aufgabe gerecht zu werden, hat dieser Mitarbeiter Fortbildungen im Qualitätsmanagement und als Auditor absolviert. Er arbeitet innerhalb der Stadtverwaltung in einem Team von Fachkräften.

Die Dialog-Offensive Pflege macht sich außerdem weiterhin dafür stark, die anstehende Vereinheitlichung der Pflegeausbildung zu verhindern. Die Bundesregierung plant, für Altenpfleger, Gesundheits- und Krankenpfleger sowie Kindergesundheits- und Krankenpfleger eine im Wesentlichen einheitliche Ausbildung zu schaffen: Der Beruf würde damit vielseitiger und attraktiver und die Pflegekräfte flexibler einsetzbar. Die Mitglieder der Offensive befürchten dagegen, dass die ohnehin schon raren Pflegekräfte noch weniger würden und schlechter qualifiziert sein. Sehr verkürzt gesagt: Ein Kind brauche andere Pflege als ein multimorbider, dementer alter Mensch. Martin Behmenburg: „Dieses Vorhaben würde den Altenpflegeberuf tatsächlich abschaffen, und wir haben bereits jetzt viel zu wenige Fachkräfte für Altenpflege.“ Eine allgemeine Pflegeausbildung würde nicht qualifiziert auf die besonderen Anforderungen in diesem Beruf vorbereiten.

„Wir möchten eine Basis für die Zukunft legen.“

Die beiden Pflegestrategen machen deutlich, wie hoch der Handlungsbedarf in der Pflege ist. Es geht um die Quantität und die Qualität der Pflegeprofis, gerechte und transparente Beurteilungsverfahren für Pflege, eine hochwertige ambulante und stationäre Versorgung kranker, behinderter und alter Menschen, angemessene Vergütungen für Pflege(r), Entlastungen für pflegende Angehörige, weniger Bürokratie und einiges mehr.

Martin Behmenburg, Oskar Dierbach haben sich mit ihren Mitstreitern viel vorgenommen. Sie fassen zusammen: „Wir möchten eine Basis für die Zukunft legen. Wenn die Ergebnisse unseres Planens und Handelns für sich sprechen und in der Öffentlichkeit gut ankommen, haben wir das erreicht. Wir sind mit der Dialog-Offensive Pflege noch lange nicht am Ziel, aber das Denken verändert sich. Menschenwürde gilt auch für alte Menschen, die in ihrem Urin liegen.“