Mülheimer Erklärung zur Würde und Lebensqualität Pflegebedürftiger und der sie Pflegenden

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung
aller staatlichen Gewalt.“
Grundgesetz, Artikel 1, Abs. 1

Herr M. schämt sich. Er hat wieder den Weg zur Toilette nicht rechtzeitig geschafft. Bis die Pflegekraft kommt, dauert es noch Stunden. Es ist unangenehm, sich ihr zumuten zu müssen …
Herr W. ist müde und verzweifelt. Seine Frau war wie so oft in der letzten Zeit die ganze Nacht auf den Beinen – auf der Suche nach ihrer Vergangenheit. Er weiß nicht, wie lange er das noch durchhält. Aber nach 50 gemeinsamen Jahren kann er sie doch nicht einfach in fremde Hände geben. Den gemeinsamen Lebensabend hatten sie sich ganz anders vorgestellt …
Frau P. ist frustriert. Ihre Patientin hat außer ihr niemanden, der sich um sie kümmert. Sie braucht mehr als nur die nötigste Versorgung, aber für “mehr“ fehlt einfach die Zeit …

Die Würde des Menschen ist weder verhandelbar noch quantifi zierbar.
Sie ist nicht qualitativ teilbar und sie gilt für alle Menschen jedweder Nationalität, jedweder ethnisch-kulturellen Herkunft, jeden Alters und jeden Geschlechts.Der erste Artikel des Grundgesetzes verpflichtet die Ausübung aller staatlichen Gewalt auf die Achtung und Wahrung der Würde jedes Einzelnen – vom ungeborenen Menschen bis zum Greis. Immer dann, wenn Menschen auf die Hilfe und Pflege anderer Menschen angewiesen sind, ist für die Einhaltung dieses obersten Verfassungsgrundsatzes in besonderem Maße Sorge zu tragen.
In der Erkenntnis, dass die Wahrung der Menschenwürde zugleich gesellschaftliches Ziel und gesetzliche Verpflichtung ist, haben sich die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Dialog-Offensive Pflege der kommunalen
Pflegekonferenz der Stadt Mülheim an der Ruhr zusammengefunden, um dies zu verwirklichen.
In dieser Gruppe engagieren sich unter Moderation des Sozialamtes sachkundige
Bürgerinnen und Bürger, pflegende Angehörige, beruflich Pflegende, Entscheidungsträger
von privaten wie karitativen stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen sowie Vertreter der Kostenträger.

Im Mittelpunkt aller Bestrebungen stehen

  • die Pflegebedürftigen in Mülheim an der
    Ruhr mit ihren individuellen Wünschen
    und Bedürfnissen sowie ihrem Recht auf
    ein selbst bestimmtes Leben in Würde, sowie
    angst- und stressfreie Betreuung,
  • die pflegenden Angehörigen, deren Leistungen
    gesellschaftlich wahrgenommen
    und anerkannt werden müssen und die
    der Entlastung bedürfen,
  • die professionell Pflegenden, die in ihrem
    Beruf einem großen psychischen und physischen
    Druck ausgesetzt sind und zum
    Erhalt ihrer Gesundheit und ihrer Motivation
    angemessene Arbeitsbedingungen und
    Unterstützung benötigen.

Begrenzte materielle und personale Ressourcen können kein limitierender Faktor für eine menschenwürdige Versorgung pflege- und hilfebedürftiger Menschen sein. Sie sind zur Verfügung zu stellen.
Die bestehenden Leistungsgesetze (z.B. SGB XI und WTG) sind in ihrer verfassten Absicht ehrlich und zum Nutzen der Betroffenen anzuwenden. Aufgabe und Ziel der Dialog-Offensive Pflege ist es, bestehende Schwachstellen aufzuzeigen und Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Die hier entwickelten Lösungsansätze finden einen breiten Konsens unter den beteiligten gesellschaftlichen Akteuren und werden von den Unterzeichnern der „Mülheimer Erklärung zur Würde und Lebensqualität Pflegebedürftiger und der sie Pflegenden“ konsequent und nachhaltig verfolgt. Die politisch wie gesellschaftlich Verantwortlichen und alle Bürgerinnen und Bürger sind aufgefordert, diese humanitäre Bewegung in unserer Stadt nach besten Kräften zu unterstützen. Die Unterzeichner unterstützen die Ziele der Dialog-Offensive Pflege und verpflichten sich, das Ihnen Mögliche zu tun, eine menschen würdige Pflege in Mülheim an der Ruhr zu realisieren.

Mülheim an der Ruhr im Oktober 2012